Lesen Sie, wie sich der Wandel in der Opferhilfe bei Sexualdelikten in Schleswig-Holstein vollzog durch:
- Innovative Opferunterstützung: Zur Umstellung legte das Team, das mit Opfern sexueller Gewalt arbeitet, Wert auf opferzentrierte Arbeitsabläufe, implementierte audiovisuell aufgezeichnete Interviews, um Traumata zu minimieren, und leistete Pionierarbeit bei der Spezialschulung für Beamte, die sich mit Sexualverbrechen befassen.
- Technologie- und Rechtstransformation: Ein wesentlicher Teil der Transformation war die Implementierung gerichtssicherer Interviewtools, die Anpassung an gesetzliche Änderungen wie §58a StPO und die Zukunftsvision für eine zentrale Datenverwaltung, um effizientere und fairere Gerichtsverfahren zu gewährleisten.
- Führendes Beispiel für Deutschland: Die Kombination aus engagierten Beamten, innovativer Technologie und Rechtskonformität in Schleswig-Holstein setzt Maßstäbe für den Opferschutz und hat das Potenzial, das gesamte deutsche Justizsystem bei der Unterstützung von Opfern von Sexualstraftaten zu beeinflussen.
Anspruch auf Opferschutz und Notwendigkeit polizeilichen Handelns verbinden. Geht das?
Das Schutzbedürfnis von Geschädigten nach Sexualstraftaten im Rahmen notwendiger polizeilicher Ermittlungen und strafprozessualer Maßnahmen ist den Ermittlern der Landespolizei Schleswig-Holsteins schon immer ein Anliegen. Es ist sicherzustellen, dass der gesamte Prozess, angefangen von der ersten Beteiligung der Polizei bis zur endgültigen Entscheidung eines Richters, den Ansprüchen der Opfer gerecht wird. Sie strebten an, die Beweisaufnahme zu verbessern, den Prozess zu optimieren und technologische Herausforderungen zu beseitigen. Alles begann vor über 25 Jahren mit der audiodokumentieren Vernehmung. Heute werden solche Vernehmungen überall audiovisuell durchgeführt.
Was sie in Schleswig-Holstein erreicht haben, war nichts weniger als revolutionär. Sie haben einen Ansatz entwickelt, der auf internationalen Best Practices basiert und sowohl den Schutz der Opfer als auch die Verbesserung der Beweisaufnahme durch Vernehmungsmethoden gewährleistet. Dieser Ansatz hat sich bewährt und kann anderen Polizeien in der Bundesrepublik Deutschland als Beispiel dienen zur Verbesserung der Betreuung von Opfern während des Vernehmungsprozesses.
Zentral für diesen neuen Ansatz war ein wesentlicher Wandel in den Vernehmungsmethoden. Die audiovisuelle Aufzeichnung von Vernehmungen als Standard haben zur Reduzierung erneuter polizeilicher Befragungen oder Vernehmungen geführt, bei denen die Geschädigten ihre Erlebnisse immer und immer wieder schildern mussten.
Die Suche nach technologischen Lösungen führte sie im Jahr 2010 zu Davidhorn. Die Herausforderung? Eine technische Möglichkeit zu finden, gerichtsfeste Vernehmungen zu dokumentieren, um Mehrfachbefragungen bei der Polizei möglichst zu unterbinden.
Diese Transformation wurde zunächst nicht durch eine Gesetzesänderung oder offizielle Anweisung ausgelöst. Stattdessen war sie das Ergebnis von Personen innerhalb der Polizei, die von Leidenschaft, Entschlossenheit und dem Wunsch angetrieben wurden, die Perspektive der Opfer stärker in den Fokus zu rücken. Inspiriert von der dänischen Polizei und deren Praktiken wollten sie dieselben Standards in Schleswig-Holstein einführen, insbesondere im Umgang mit Sexualdelikten. Das Ziel? Ihre Arbeitsabläufe zu verändern, um den Ermittlungen den effektivsten Start zu ermöglichen. Denn eine gute Erstvernehmung ist der Schlüssel für anschließende Ermittlungen und Maßnahmen.
Die Zusammenarbeit mit Davidhorn begann mit nur drei Aufnahmesets für Tests. Im Laufe der Jahre hat sich diese Zahl erhöht und ist nun bei allen Sexualdelikts-Teams in den 26 Kriminalpolizeidienststellen Schleswig-Holsteins vorhanden.
Eine rechtliche Änderung im Jahr 2019, die Vernehmungsprotokolle für verdächtige Jugendliche und verdächtige Personen in Kapitaldeliktsfällen betraf, führte zu einer Erweiterung des Systems und zur Anschaffung weiterer Vernehmungssets. Für das Team, das hauptsächlich mit Sexualdelikten arbeitet, haben sich mobile Lösungen als wertvoll erwiesen, um örtlich flexibel agieren zu können.
Sie stellen sich jedoch eine Zukunft vor, in der eine zentrale Serverlösung eingesetzt wird, die den Versand von Vernehmungs-CDs im ganzen Land überflüssig machen könnte – ein zeitaufwändiger Prozess, der anfällig für Fehler ist.
Technischen Lösungen könnten in Zukunft Zeit und personelle Ressourcen sparen, indem sie eine automatische Transkriptionsfunktion “Sprache zu Text” und KI-unterstützte Zusammenfassungen von Vernehmungen bieten.
Gestaltung eines Paradigmenwechsels: Opferorientierte Prozessabläufe
Der neue Ansatz basiert auf einem entscheidenden ersten Schritt: der Durchführung einer gut dokumentierten richterlichen Vernehmung. Das Ziel? Den Prozessbeteiligten eine Videovernehmung zur Verfügung zu stellen, die der geschädigten Person eine erneute Vernehmung vor Gericht erspart, um das Durchlebte nicht erneut schildern zu müssen. Diese Praxis ist seit den letzten drei Jahren gesetzlich in Deutschland vorgeschrieben. Die Praxis hat gezeigt, dass diese hauptverhandlungsvermeidente Vernehmung am Ende der polizeilichen Maßnahmen Sinn macht, da dann alle Fakten durchermittelt und festgestellt wurden.
Es werden also nach wie vor audiovisuell dokumentierte polizeiliche Erstvernehmungen durchgeführt.
In dieser Hinsicht ragt Schleswig-Holstein sicherlich heraus und ist die einzige Region in Deutschland, die mit einem solchen Maß an Verantwortung arbeitet. Mit etwa 1200 jährlich durchgeführten Vernehmungen liegen sie im Vergleich zu allen anderen Bundesländern weit vorne.
Neben der Änderung ihrer Vernehmungspraktiken hat das Team in Schleswig-Holstein auch einen Leitfaden mit bewährten Verfahren für Ermittlungen nach Sexualdelikten erstellt. Diese Ressource dient allen Kollegen in der Region, die mit solchen Fällen arbeiten, als unschätzbares Werkzeug.
Dieser Leitfaden ist zu einer Art “internem Gesetz” innerhalb der Polizei geworden, und sein Einfluss erstreckt sich durchaus über Schleswig-Holstein hinaus. Er wurde in der Vergangenheit unter anderem mit der Polizei in Slowenien sowie in Hamburg, Berlin/ Brandenburg und Niedersachsen geteilt.
Die Task Force, die diese bewährten Verfahren für den Umgang mit Opfern von Sexualdelikten entwickelt, besteht nur aus sieben Personen: einer Referentin von der Polizeischule, zwei Staatsanwältinnen, drei Ermittlerinnen und einem Pressesprecher, der früher Sexualdelikte bearbeitet hat. Sie sind die “Hüter” dieser Standards für ganz Schleswig-Holstein.